Sambafotboll, auf deutsch

(S. 427)

Kleines Wörterverzeichnis über die brasilianische Fußballwelt

Alegria do povo = 1. Freude des Volkes; ein Ausdruck, mit dem der Verfasser, Dramatiker und Chroniker Nelson Rodrigues Garrincha getauft hat. 2. Ein Film des Filmregisseurs Joaquim Pedro Andrade über Garrincha.

Alvinegro = schwarzweiß; werden die Clubs bezeichnet, die schwarzweiße Hemden tragen, wie z.B. Botafogo, Santos, Atlético Mineiro und Corinthians.

Bacalhau = Kabeljau; ein brasilianisches Nationalgericht, trotzdem der Fisch aus Norwegen und Portugal importiert wird. Der Fisch wurde auch zum Spitznamen von Vasco da Gama, das ist die Fußballmannschaft der portugiesischen Kolonie in Rio de Janeiro.

Baixinho = von baixo, klein; Spitzname von Romário, „der Kleine“.

Bancada da Bola = die Gruppe der Parlamentsmitglieder, die entweder selbst „cartolas“ oder mit dem korrumpierten brasilianischen Fußballetablissement stark liiert sind.

Batucada = gemeinsam mit den Händen trommeln, oftmals im Sambarhythmus. Das hört man meistens im Zusammenhang mit dem Karneval, aber auch in anderen Zusammenhängen. Man tut das, um die Moral zu erhöhen und die Gemeinschaft zu verstärken. Das taten z.B. die brasilianischen Fußballspieler im Jahr 1970, im Bus auf dem Weg zum Finale im Aztecastadion, man saß und trommelte gemeinsam mit den Fingern, auf die Sitze, die Knie, auf alles, was in der Nähe war. Alles, um den Zusammenhalt zu verstärken.

Brasilien = Der Name ist nach dem ersten Produkt entstanden, das die Europäer in dem neuen Land gewinnen konnten, nämlich der rote Bresiliebaum.

 

 

(S. 14-17)
1. Vom Spaß der Oberklasse bis zur großen Freudenquelle des Volkes
– die Entwicklung des Fußballs in Brasilien

Am 15. November 1889 übergab Kaiser Pedro II die Macht an das Militär. Das Kaiserreich Brasilien war vorbei und ohne dass ein Tropfen Blut vergossen wurde, verwandelte sich Brasilien in eine Republik: „Fast lautlos fällt die Kaiserkrone zur Erde, und sie ist auch diesmal – da sie verloren geht – so wenig mit Blut befleckt wie damals, als sie errungen wurde. Der eigentliche, moralische Sieger ist noch einmal die brasilianische Friedfertigkeit. Ohne die geringste Gehässigkeit fordert die neue Regierung den alten Mann, der fünfzig Jahre lang der gute Steuermann seines Landes gewesen ist, auf, Brasilien in Frieden zu verlassen und seine letzten Tage in Europa zu verbringen.“( Aus dem Buch Das Land der Zukunft von Stefan Zweig). Die viel zu späte Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1888 machte es für Pedro II unmöglich, seine Macht weiterhin zu behalten. Die Republik wurde ausgerufen und kurze Zeit danach hatte Pedro II das Land verlassen und sich nach Europa begeben. Brasilien machte nun die ersten, zaghaften Schritte in die Zukunft, die Spuren des Feudalismus und Kolonialismus sollten jetzt ausgemerzt werden und das Militär, das die Veränderungen leitete, empfing den Positivismus mit offenen Armen; Auguste Comte war ein Hausgott und der Glaube an die Zukunft, von den wissenschaftlich rationellen Lehren geprägt, befestigte sich in gewissen Teilen der brasilianischen Elite. Die Sklaverei war gerade abgeschafft worden und im Süden erlebte die Kaffeeindustrie eine umwälzende Modernisierung – die Sklaven verließen die Kaffeeplantagen auf dem Lande und zogen in die großen Städte. Es wurden große infrastrukturelle Projekte geplant, mit dem Bau eines Eisenbahnnetzes als wichtigster Teil. Das Land öffnete sich für ausländisches Kapital und Immigranten aus allen Ländern der Erde. Deutsche, Portugiesen, Italiener und Engländer gehörten zu den bedeutenden Gruppen. Vor allen Dingen die Engländer begannen, innerhalb der Wirtschaft eine wichtige Rolle zu spielen. Das hatten sie bereits während des gesamten 19. Jahrhundert getan. Es waren die Engländer, die – in ihrem eigenen Interesse – mitgeholfen haben, Brasilien zu einer eigenen Nation zu verhelfen. Englische Bankiere sorgten dafür, dass Portugals große Schulden an England nach Brasilien überführt wurden und die neue Nation war, wirtschaftlich gesehen, lange ein reines „Britisches Protektorat“, und das sollte bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges auch so verbleiben. Die Engländer hatten zwischen Brasilien und Portugal praktisch den gesamten Handel in ihrer Hand, zumindest zu ca. 90 Prozent. Auch wenn die Macht über die Wirtschaft bei den Kaffeebaronen lag, die den Staat mehr als Werkzeug für ihre eigenen Interessen betrachteten, spielten die Engländer durch ihre Darlehen, aber auch durch direkte Investitionen eine entscheidende Rolle, als Brasilien seine ersten Schritte auf der industriellen Laufbahn unternahm. Innerhalb dieser Gruppen von Engländern wurde zuerst in São Paulo und Rio de Janeiro das Fußballspielen eingeführt.

Die ersten Clubs in Brasilien wurden von Engländern gegründet. The Bangu Athletic Club in Rio de Janeiros nördlichen Vororten war an die Textilfabrik „A companhia Progresso Industrial do Brasil“ geknüpft und in der Direktion saßen sieben Engländer, ein Italiener und ein weißer Brasilianer. Andere frühe Clubs waren Payssandu Cricket Club und Rio Cricket and athletic Association. Die Engländer investierten in privaten Unternehmen und, durch Konzessionen, auch in öffentlichen Unternehmen. Deshalb gab es zu der Zeit in Brasilien so große Gruppen von britischen Familien. Man arbeitete daran, die Eisenbahn und die Textilindustrie aufzubauen, und auf dem Programm der englischen Clubs stand nicht nur Cricket, sondern auch Rudern, Polo – und Fußball. Die Clubs funktionierten genau so wie in England, man suchte Ruhe und Entspannung nach der Arbeit des Tages, und in den Cricket-Clubs versammelte sich das Volk, um sich heimisch zu fühlen und um die englischen Traditionen zu pflegen. Man pflegte den Patriotismus und wenn zwischen Payssandu und Rio Cricket ein Spiel stattfand, wehten die englischen Flaggen neben dem Spielfeld. Entlang der gesamten Atlantikküste in Brasilien konnte man Engländer finden, aber dass man an vielen Stellen hier und da Fußball spielte, vor allen Dingen die englischen Seeleute in den Häfen – und sogar die Kapuzinermönche! – das verringert nicht die Wichtigkeit des brasilianischen Engländers Charles Millers Werk.

 

Charles Miller wurde im Jahre 1874 geboren und hatte englische Eltern. Sein Vater war britischer Konsul in São Paulo. Als junger Mann wurde Miller nach Southampton geschickt, um zu studieren. Als er als Zwanzigjähriger im Jahre 1894 von England zurückkehrte, machte er das mit einem Fußball unterm Arm, sowie mit außerordentlichen Kenntnissen über das neue Spiel. Er hatte einen Platz bei Hampshires Fußballmannschaft in England bekommen und als er nach São Paulo zurückkehrte, sammelte er englische Jugendliche um sich herum, die meisten von ihnen arbeiteten im Gaswerk der Stadt, der São Paulo Railway oder bei den englischen Banken. Das erste Training, das er organisierte, fand am 14. April 1895 statt und danach breitete sich der neue Sport wie ein Lauffeuer aus, zuerst innerhalb der englischen Schulen, aber auch bei den Firmen, in denen Engländer arbeiteten. Das erste offizielle Spiel, das auf brasilianischem Boden ausgetragen wurde, fand 1895 zwischen São Paulo Railway und O Team do Gás – einem Team des Gaswerks der Stadt, statt. Es wurde der São Paulo Athletic Club gebildet, auch dieser von Engländern, und man spielte auf einem Platz in Sâo Paulo, der Chácara Dulley im Stadtteil Bom Retiro genannt wurde. Da es jedoch nur einen einzigen richtigen Club gab, wurden nicht sehr viele Spiele gespielt. Es dauerte, bis der Deutsche Hans Nobiling nach São Paulo kam, ehe das Fußballspielen richtig in Gang setzte. Nobiling gehörte zu der Woge von deutschen Immigranten, die sich im Süden Brasiliens niederließen, was zu einer schweren, wirtschaftlichen Herausforderung für die englischen Interessen wurde. Auch Nobiling kannte das neue Ballspiel und wird als einer der Wichtigsten genannt – zusammen mit Charles Miller – , der den brasilianischen Fußball in Gang brachte. Nach und nach bildeten sich weitere Fußballclubs und mal spielte Sonntags gegeneinander, aber die Zuschauer waren gering und die Beteiligten gehörten alle zu der weißen Gesellschaftselite des Landes. Wenige waren von brasilianischer Herkunft, die meisten waren Engländer, und die Brasilianer, die kamen und zuschauten, lernten nie, die Spieler wieder zuerkennen. Es kamen stets neue Spieler dazu, Leute, die eine Zeitlang in Brasilien arbeiteten und wieder nach England zurückkehrten, und die wieder von neuen ersetzt wurden.

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(S. 128 –131)

Der Fußball im heutigen Brasilien spiegelt die brasilianische Gesellschaft und wenn das Sportunternehmen NIKE verdächtigt wird, Ronaldo am Tag des Endspiels während der WM in Frankreich zum Spielen gezwungen zu haben, ist das eine Verdächtigung, die aus einer Gesellschaft kommt, in welcher die Korruption lange Ahnen hat. Man kann ganz einfach sagen, dass diese Tatsache auf die Kolonialzeit zurück geht. Die patriarchalische Gesellschaftsordnung, die zur Zeit der Zuckerplantangen entstand, hat das brasilianische Leben geprägt, seitdem Getúlio Vargas , als Landesvater – und als „o pai dos pobres“ (Vater der Armen) in den 30er Jahren, mit Unterstützung des Militärs, die Macht in Brasilien ergriffen hatte. Das patriarchalische System entwickelte sich später zu einem wirtschaftlichen System, als die Firmen zu guten Relationen mit dem Staat und seinen Politikern gezwungen waren, um sich weiter entwickeln zu können und um wirtschaftliche Unterstützung zu bekommen. Freundschaftliche Kontakte „nach oben“ waren genau so wichtig wie eine tragende wirtschaftliche Idee des Unternehmens. Kontakte zu haben und seine Kontakte entsprechend zu honorieren, wurde ein Teil des Schmiermittels im brasilianischen System. Gleichzeitig entwickelte sich die Gewohnheit, die offiziellen Finanzen zu missbrauchen. Was auf der politischen Ebene nach der Zeit der Macht des Militärs die Tendenzen zur Korruption verstärkte, war die tiefe parteipolitische Zersplitterung. In den parlamentarischen Versammlungen wimmelt es nur so von Parteien, am Anfang der 90er Jahre waren in der ersten Kammer Brasiliens 21 Parteien repräsentiert, was einen guten Nährboden für Kuhhandel und Feilschen darstellte. Dass die sog. „Parteipeitsche“ ein ziemlich unbekannter Begriff war, führte dazu, dass jeder Regierungschef sich bei neuen Fragen und neuen Gesetzesvorlagen auf neue Marionetten verlassen musste. Das hatte zur Folge, dass man die gewünschten Stimmen kaufen konnte – und es gibt für den, der genug Geld hat, sogar Parteien, die man „mieten“ kann. Was die Tendenzen zur Korruption noch weiter verschlimmert, ist die große Repräsentation kleinerer Teilstaaten im Norden und Nordosten Brasiliens, wo die patriarchalischen Traditionen noch stärker vertreten sind als im Süden des Landes. Generell kann man auch sagen, dass die Politik in Brasilien stärker von Interessen handelt als von Ideologien. Die Korruption ist ein Mittel der privaten Interessen, den Staat, und auch die Teilstaaten, unter Kontrolle zu behalten und die Elite, die seit langem den Staat und die Teilstaaten kontrolliert, erreicht damit fast alle ihre Ziele. Auch wenn ein Politiker überführt wurde, eine kriminelle Handlung begangen zu haben, ist es ungewöhnlich, dass eine solche Person deshalb verurteilt wird oder ins Gefängnis kommt.

 

Die gesamte brasilianische Gesellschaft ist von Korruption durchdrungen. Für einen gewöhnlichen Brasilianer kann sich das auf vielerlei Art und Weise äußern: Kann er sich darauf verlassen, dass das Benzin rein ist und nicht verpantscht? Und die Frau, deren Wohnung von einer bewaffneten Banditenbande leer geräumt wurde, an wen soll sie sich wenden, wenn sie den Polizeichef in ihrem Bezirk schon verdächtigt, von derselben Banditenbande bezahlt zu werden, damit er nicht eingreift? Oder die Mütter, die entdecken, dass das hohe Kindersterben in der Dialysenabteilung des Krankenhauses auf die schlechte Ausrüstung des Laboratoriums zurückzuführen ist – was sollen sie tun, wenn sie herausfinden, dass die moderne Ausrüstung, die ihnen so lange versprochen wurde, niemals eingekauft wurde, weil der verantwortliche Einkäufer den Preisunterschied zwischen einer neuen und einer gebrauchten Ausrüstung in seine eigenen Taschen gesteckt hat? Was soll man tun in einem Land, in dem Personen, die es gewohnt sind, Schmiergelder anzunehmen, damit beauftragt sind, die Korruption zu bekämpfen? Ist es da verwunderlich, dass so wenig geschieht, wenn ein Sachbearbeiter beim Steueramt oder ein Staatsanwalt am Gericht, die versuchen, etwas daran zu ändern, in irgendeinem Straßengraben gefunden werden, durch Genickschuss getötet, als Warnung für diejenigen, die allen Ernstes versuchen sollten, sich der Probleme anzunehmen?

 

Dass der Fußball außerhalb dieser Welt sein eigenes Leben führen könnte, ist natürlich eine Unmöglichkeit. Der Fußball in Brasilien ist heutzutage eine Milliardenindustrie, die immer mehr Akteure anlockt, und die gewöhnlichsten Vergehen in der Welt des Fußballs bestehen aus Steuerhinterziehungen, Geldwäschen, Nichtbezahlen von sozialen Abgaben, Herumtricksen mit Publikumziffern und der Herstellung von falschen Pässen. Durch den enormen Vormarsch des Fußballs als Nationalsport und die große Passion des Volkes für den Fußball während der 30er Jahre, entwickelte sich der Fußball auch als das perfekte „Sprungbrett“ für die Karriere der Politiker. Der Politiker, der keine Verankerung innerhalb des Fußballs hat, ist von vornherein zum Missglücken verurteilt. Die Zuschauermassen, die sich auf den Tribünen des Fußballstadiums drängeln, sind potentielle Wähler, und diese Sehnsucht der Politiker nach der Welt des Fußballs war eine beitragende Ursache, dass Brasilien das WM-Gold im Jahre 1950 im eigenen Lande verlor. In ihrem Eifer, zusammen mit den Spielern gesehen zu werden, zerstörten die Politiker während des Vorbereitungs-Trainings die Chancen der brasilianischen Fußballmannschaft. Den Denkzettel von 1950 hat man nie richtig begriffen, der brasilianische Fußball ist immer noch stark politisiert.

Die brasilianischen Fußballclubs sind in ihrer Struktur meistens demokratisch und werden von Mitgliedern gesteuert, die ihre Kandidaten anhand von Mitgliedskarten oder wirtschaftlichen Anteilen in Form von Aktien wählen. Der Kampf um die Macht in den Clubs wird später in den politischen Fraktionen ausgetragen. Nicht selten ist es so, dass der Politiker mit dem dicksten Geldbeutel und den größten Ressourcen ihre „Wahlkampagne“ gewinnen. Der Urtyp dieser cartola (Fußball-Bonze) ist Vasco da Gamas Vorsitzender Eurico Miranda, ein zynischer und machtvollkommener Politiker, der in der anderen Kammer Brasiliens (A Câmara) sitzt und sich nicht scheut, die wirtschaftlichen Mittel des Clubs für seine eigenen politischen Kampagnen zu benutzen. Trotz der bescheidenen Einkünfte, die er in seiner Steuererklärung angibt, hat er kürzlich eine Luxusvilla i Florida gekauft sowie ein Haus mit Strandgrundstück in Brasilien – für mehr als acht Millionen Kronen. Er wird verschiedener Vergehen beschuldigt und als die Steuerbehörde im Herbst 2001 zwecks einer Steuer-Razzia das Clubhaus von Vasco da Gamas besuchte, drohte er den Angestellten der Steuerbehörde mit dem Tod, und um ihre Arbeit unmöglich zu machen, schaltete er im ganzen Gebäude das Licht aus. Er wurde auch von 168 Zuschauern verklagt, die im Jahre 2002 während des Endspiels zwischen Vasco da Gama und São Paulo verletzt wurden, weil eine der Tribünen zusammenbrach. Mirandas Zynismus zeigte sein brutales Gesicht, als er – völlig unberührt von den Opfern des Unglücks – verlangte, dass das Spiel zu Ende gespielt wird. Wie diese Fußballbonzen denken, wird von Eduardo Viana – ein Kollege von Miranda und Vorsitzender in Rio de Janeiros Fußballverband – illustriert, indem er sagte: „Ich verachte die allgemeine Auffassung. Von mir aus kann man die Leute ruhig mit dem Maschinengewehr erschießen, das würde mich überhaupt nicht kümmern. Ich bin der Sohn eines Fabrikeigentümers und gehöre zur Elite. Ich gehöre zu den Rechten“. Am 29.03.2001 schrieb Fabio Koff, Vorsitzender für „Os 13“ – eine Organisation für die dreizehn größten Clubs – einen Debattenartikel im „Jornal do Brasil“, wo er die Untersuchungen und Vorschläge über Veränderungen, die innerhalb des brasilianischen Fußballs im Gange sind, positiv beurteilte. Der Artikel wurde allerdings mit einem Vorbehalt beendet: „Was jetzt wichtig ist, und zwar ein für allemal, ist dass die Zeitungen damit aufhören, über „Fußballbonzen“ zu schreiben und sich stattdessen lieber mehr damit beschäftigen, über die Spiele und die Spieler zu berichten…“

 

(S. 152 – 154)

Kurzpässe und Cross-Bälle – Gedanken über Brasilien , über die Brasilianer und deren größte Passion: der Fußball

”Ein vollständiger Überblick ist unmöglich in einem Land, dass sich selbst noch nicht einmal überblickt und sich außerdem in einer unerhört rasanten Entwicklung befindet, dass jeder Bericht und jede Statistik bereits veraltet ist, bevor die Informationen überhaupt bearbeitet und zum Drucken befördert werden konnten. Unter der Unmenge von Fragen soll deshalb vor allen Dingen ein Problem in den Mittelpunkt gestellt werden, das mir das aktuellste zu sein scheint und dass in geistiger und moralischer Hinsicht dem Brasilien von heute einen speziellen Platz unter allen Nationen der Welt beschert.

Dieses zentrale Problem, dass sich allen Generationen aufzwingt und damit auch der unsrigen, ist die Beantwortung der einfachsten und doch notwendigsten aller Fragen, nämlich: Wie können wir auf unserer Erde zwischen den Menschen von unterschiedlicher Rasse, Klasse, Hautfarbe, Religion und Überzeugung ein friedliches Zusammenleben erreichen? Das ist ein Problem, das sich immer wieder jeder Gesellschaft, jedem Staat aufzwingt. Für kein Land hat sich dieses Problem – aufgrund seiner besonderen Konstellation – gefährlicher gezeigt als für Brasilien. Und kein Land hat – und um das dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – das auf eine so geglückte und erstrebenswerte Weise geschafft wie Brasilien, und zwar auf eine Weise, die nach meiner eigenen, persönlichen Auffassung nicht nur die Aufmerksamkeit der ganzen Welt, sondern auch deren Bewunderung verdient”.

Stefan Zweig schreibt in seinem Buch Brasilien – das Land der Zukunft, herausgegeben auf Schwedisch im Jahre 1941, ein Buch, dass im Schatten von Hitler und Mussolinis Europa geschrieben wurde. Brasilien wurde für Stefan Zweig zu einem Ja der vielfältigen Menschlichkeit, die vom Faschismus und dem Nazismus so verachtet wurde.

 

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Mauricio Murad ist Fußballforscher an der Universität in Rio de Janeiro, Universidade do Estado de Rio de Janeiro, wo er die Sektion für Fußballforschung „Núcleo de Sociologia do Futebol“ gegründet hat. In seinem Buch Dos pés à cabeça (Von Fuß bis Kopf ) unternimmt er einen Versuch, eine brasilianische Soziologie über den Fußball zu schreiben: „Fußball ist innerhalb der brasilianischen Populärkultur das Ritual mit der größten Substanz die beste Metapher für die grundlegenden Strukturen unserer Gesellschaft. Fußball zu studieren, bedeutet, einen wunderbaren Fächer von thematischen Möglichkeiten, Arbeit, Forschung und Wissen über und um die brasilianische Wirklichkeit zu öffnen.“ Wir trafen uns für ein Interview in seiner Wohnung in Tijuca in Rio de Janeiro. Er hat eine Vergangenheit als Junior im Club Botafogo, aber die Mannschaft seines Herzens ist Vasco da Gama. Was ihn mehr als alles andere faszinierte, war die Rolle der Farbigen in der Geschichte des brasilianischen Fußballs.

„Die Farbigen sind das Fundamentale in Brasiliens Geschichte, und in der Geschichte des brasilianischen Fußballs. Es waren die Farbigen, die den brasilianischen Fußballstil erfunden haben. Durch Geschicklichkeit und Balance, die wir malemôlencia nennen. In der afrikanischen Kultur stand der Körper im Zentrum. Die Tänze, die religiösen Feste, die Rituale…. Diese ganze Körperkultur kam mit den Sklaven hierher. Die Körper der Farbigen wurden durch die Arbeit versklavt, aber auch sexuell. Und die farbigen Körper reagierten gegen die Sklaverei mit physischen Ritualen. Die Farbigen erfanden den samba, der zuerst zemba genannt wurde und ein Protest gegen die Sklaverei war. Sie erfanden capoeira, maculelé und viele andere Ausdrücke für ihre Körperkultur. Anfangs durften die Farbigen nicht Fußball spielen. Als sie später zu spielen begannen, überführten sie ihre Körperkultur in das Spiel, in die Musik und ihre Geschmeidigkeit. Das Fußballspielen wurde 1894 in Brasilien eingeführt, damals wurde er als elitär und rassistisch bezeichnet. Nur die reichen und feinen Leute, die weißen Familien, durften Fußball spielen. 1923 wurde in Rio de Janeiro die erste Mannschaft gegründet, und zwar mit Farbigen, Mestizen und verarmten Weißen. Das war Vasco da Gama. Diese Mannschaft gewann die Meisterschaften in Rio, was den Fußball revolutionierte. Das bewies, dass die Farbigen, die Mestizen und die armen Weißen spielen konnten, und das sogar besser als die reichen Weißen. Garrincha zum Beispiel war eine Mischung aus lundu und jongo. In beiden diesen Tänzen soll man den Gegenspieler austricksen. Der Tanz geht darauf hinaus, den anderen auszutricksen. Und das Dribbeln ist genau das – zu versuchen, den anderen auszutricksen. Ich habe ein Buch herausgegeben, in dem ich mehrere Eigenschaften des Fußballs mit anderen Bezeichnungen aus der brasilianischen Kultur vergleiche. Bicicletan zum Beispiel, eine der schönsten akrobatischen Bewegungen, führe ich auf den capoeiran zurück.

 

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In manchen Ländern wird die Brust der Frau verehrt, in anderen Ländern ihre Beine oder ihr Gesicht. In Brasilien stehen die jungen Mädchen zuhause und weinen vor dem Spiegel, nicht weil sie zu kleine Brüste oder Pickel im Gesicht haben. Sie weinen, weil ihr Hinterteil nicht rund oder groß genug ist. In Brasilien wird der Hintern wie ein religiöses Wesen verehrt. Wiederum ist es Afrika, das sich hier zeigt, und das stolze Wackeln des Hinterns der afrikanischen Frau. In den bekanntesten Klassikern der brasilianischen Literatur, dem unsinnig surrealistischen Meisterwerk Macunaïma von Mario de Andrade – eine wunderbar komische Lügengeschichte, wird die Erschaffung des Fußballs so erklärt, dass der Ball als ein Teil des weiblichen Hinterns zu den Menschen kam, wie ein Teil der verehrungswürdigen Rundheit. Vielleicht erklärt das teilweise die unerhörte Liebe, die brasilianische Fußballspieler dem Ball erweisen, der Zärtlichkeit, mit welcher die Spieler das Leder streicheln. Dann ist es auch keine Zufälligkeit, dass ein großer Fußballspieler wie Didi den Ball stets als „ela“ bezeichnete, also als weiblich.

 

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(S. 157-160)

Paulo Lins heißt einer junger Autor von einem der berüchtigten Vororte von Rio de Janeiro, Cidade de Deus (die Gottesstadt). Lins wurde im Jahre 1998 bekannt mit dem Roman gleichen Namens Cidade de Deus, eine schonungslos realistische Schilderung über einen Bandenkrieg, der in den 80er Jahren mehr als vierhundert Jugendlichen in diesem Vorort das Leben kostete. Das Buch, das auch verfilmt worden ist, erzählt über Grausamkeiten, die unfassbar sind und so weit in die jüngere Generation hineingegriffen haben, dass es unglaublich ist: Achtjährige, die auf Kommando töten, zum Beispiel.
Als ich Lins auf dem Dach eines Hauses in Cidade de Deus interviewte, war ich von der tiefen Traurigkeit in seinem Blick betroffen – er ist jünger als ich, aber ich sah auch den unbändigen Lebenswillen und den Humor, den Glauben an die Poesie, an die Literatur und die guten Kräfte, die sich trotzdem mitten in unserer Welt aus Armut, Gewalt und Ungerechtigkeiten befinden. Er durchlöchert mehrere Mythen, u.a. den Mythos, den wir Europäer gerne mit Brasilien verknüpfen, dass das Land frei von Rassismus ist.

„Das Rauschgift ist laut Aussage das große Problem, aber das ist es nicht. Das Problem in Brasilien ist der Rassismus. Brasilien ist ein sehr korrumpiertes Land. Die meisten sind Analphabeten. Wenige Menschen können lesen. Wenige haben Zugang zu Kultur, zu Informationen. Sie sagen, dass die Gewalttätigkeiten in Rio auf dem Rauschgift beruhen. Aber das ist falsch. Die Gewalt besteht in unserer historischen Vergangenheit aus der Entwicklung, die wir erlebt haben. Außerdem breitete sich die Armut während der Diktatur enorm aus. Brasilien ist eine Tragödie!“
„Innerhalb des Fußballs merkt man nicht viel von dieser Gewalt. Aber außerhalb des Fußballs geschehen viele Gewalttätigkeiten. Wie kommt das?“
„Ich glaube, das beruht darauf, dass der Fußball und die Musik unser größtes Vermögen darstellt. Das einzige, was die Leute richtig verstehen, ist der Fußball und die Musik. Der Fußball ist unsere größte Passion. Alle lieben den Fußball, der Fußball ist wie ein Gott für uns. Das ist das einzig Schöne, was wir haben, wir tragen ihn stets in unserem Herzen mit uns…“
Plötzlich ist etwas entfernt eine Maschinengewehr-Salve zu hören. Ich fahre erschrocken zusammen.
„Das Kokain ist unterwegs, sagt er resigniert, mit einem kleinen Lächeln.“

 

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Es gibt viele große Persönlichkeiten innerhalb des brasilianischen Fußballs. Eine der größten ist Heleno de Freitas, der Elegante und Schützenkönig, der im Club Botafogo in den 40er Jahren großen Erfolg hatte. Er sah sehr gut aus, hatte ein feuriges Temperament und war nicht nur bei den Männern ein großes Idol, sondern auch bei den Frauen in Copacabana. Aber der einzige Freund, den er je gehabt zu haben schien, war der Ball. Heleno de Freitas erfolgreichstes Jahr war 1945, als er von den südamerikanischen Meisterschaften in Chile, die ihn als Südamerikas besten Mittelspieler ernannt hatten, zurückkehrte. De Freitas hatte alles, was einen großen Fußballspieler ausmacht, sowohl technisch als auch physisch. Das Problem war sein Temperament. Er stritt sich mit allen, spuckte die Gegenspieler und den Schiedsrichter an, und zankte sich sogar mit seinen eigenen Mannschaftskameraden. Nach und nach, als das Publikum herausfand, wie leicht es war, ihn aus dem Gleichgewicht zu bekommen, nutzte man das gegen ihn aus, u.a. indem man ihm zurief: „Gilda! Gilda!“ In dem populären Film mit Rita Hayworth in der Hauptrolle, hat „Gilda“ Haare, die an de Freitas erinnerten und wenn er den Ruf hörte, wurde er wütend und wurde nach einer hässlichen Erwiderung oder einem mündlichen Angriff auf einen Gegen- oder Mitspieler vom Platz gewiesen – und das alles nur wegen einer Antwort auf die Provokation durch das Publikum. Eine andere Art und Weise, sich gegen die Provokationen des Publikums zu wehren war, dass er aus Wut ein Tor schoss und diese „gols de raiva“ haben zu seiner Berühmtheit beigetrogen.

Seine Karriere wurde von Skandalen und Platzverweisungen begleitet. Er verließ Botafogo und ging zu Boca Juniors nach Argentinien, wo es ihm schon nach kurzer Zeit glückte, sich sowohl mit seinen Fußballkameraden als auch mit der Leitung des Clubs zu zerstreiten. Die nächste Station seiner Karriere war Kolumbien und der Club Millionários. Dort wurde er zu dem gleichen großen Idol wie in seinem Heimatland und man errichtete eine Statue zu seinem Gedenken. Aber eines Tages verließ er plötzlich Millionários und flog zurück nach Rio. In Rio fuhr er auf geradem Weg zu seinem alten Club Botafogo, wo er sich hinsetzte und dem Training zuschaute. Irgend etwas in seinem Inneren war kaputtgegangen und es wurde auch nie mehr ein Vertrag zwischen ihm und Botafogo abgeschlossen. Stattdessen sah man ihn oft auf einem Motorrad, mit dem er an der Copacabana entlang fuhr, wo er einst entdeckt worden war. Immer öfter sah man ihn einsam auf der Tribüne sitzen, weinend und mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt, wenn Botafogo trainierte. Die psychischen Beschwerden, die von einer Syphilis herrührten, führten schließlich dazu, dass seine Familie ihn in eine Nervenheilanstalt brachte. Dort organisierte er Fußballspiele unter den Patienten. Er kümmerte sich um alles, und in seinem eigenen Zimmer verbrachte er die Zeit damit, ein Album mit Bildern über „Heleno de Freitas, Südamerikas bester Mittelspieler“ anzuschauen.

 

Wenn er einschlief, hatte er –erzählt man – immer einen Ball im Arm. Dort starb er auch an den Folgen eines Schlaganfalls, im November 1959, 39 Jahre alt.

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(S. 191-192)

Der Begriff „magischer Realismus“ wurde von Carmen Balcells dem Verlagsdirektor von Seix Barrals – dem spanischen Buchverlag, der in den 60er und 70er Jahren viele der großen lateinamerikanischen Autoren verkaufte – geprägt. Das Ganze war ein kommerzieller Slogan, der später von Kritikern und Literaturkennern übernommen wurde, trotzdem viele der Autoren mehr mit den hartgesottenen Realisten wie z.B. Hemingway, Vargas Llosa usw. gemeinsam hatten. Der Begriff sollte den Finger darauf setzen, in welch phantastischer Weise Wahrheiten und Lügen zu wunderbaren Geschichten verwebt wurden, und das Buch Hundert Jahre Einsamkeit von Márquez galt als der Prototyp für den „magischen Realismus“. Ein Ereignis in der brasilianischen Fußballgeschichte, das aus Márques Roman stammen könnte, geschah 1949 während der Meisterschaftsspiele in São Paulo, während eines Fußballspiels zwischen Santos und einem weniger bekannten Club, XV de Piracicaba. Santos, die zu dieser Zeit ziemlich gut waren, trotzdem Pelé noch nicht bekannt war, führte das Spiel mit 2-1, als noch 5 Minuten der Spielzeit ausstanden. Es regnete und stürmte ziemlich, als der Rechtsaußen José Cervi Junior, genannt „O Russo (Der Blonde) in Richtung Eckfahne ging, um die Ecke zu schießen. Er hatte sich dazu entschieden, dass die Ecke – auf die eine oder andere Weise – zur Quittierung führen sollte und als er den Ball loskickte, befand sich die gesamte Mannschaft von Piracicabas in Santos Strafraum. Er selbst lief, nachdem er die Ecke geschossen hatte, in voller Fahrt in Richtung des gleichen Strafraumes. Der Ball war unterdessen vom Wind erfasst worden, blieb ein Weilchen in der Luft hängen, und fiel danach herunter – in Richtung José Cervi, der in voller Fahrt angelaufen kam. Mit einem perfekten Nicken quittierte er seine eigene Ecke! Und der Schiedsrichter, ein Engländer namens Percy Snape, sah keinen Grund, das Tor nicht anzuerkennen, worauf das Spiel – zur wilden Freude der Piracicabas-Spieler, mit 2-2 endete.

 

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(S. 301-302)

Garrincha – Aufstieg und Fall für den „Engel mit den krummen Beinen“ (1933 – 1983)

Um Garrinchas Leben zu beschreiben, muss man sich zuerst in die brasilianische Geschichte vertiefen. Seine Großeltern väterlicherseits stammten von den Fulniôindianern aus dem Teilstaat Alagoas im Nordosten Brasiliens ab. Das waren Jäger, die früh die Kunst erlernt hatten, den weißen Mann „auszutricksen“. Den Portugiesen gelang es nicht, ihnen beizubringen, das Land zu beackern. Die Indianer lebten von der Jagd und vom Fischen und hatten ausgezeichnete Fertigkeiten darin entwickelt. Sie hatten ihre eigene Kultur, vor allen Dingen auch sexuell, wo das meiste praktiziert wurde wie z.B. Polygamie, Inzest, Sodomie, Homosexualität usw. Die Portugiesen waren von der indianischen Freizügigkeit zuerst schockiert, später akzeptieren sie diese Lebensweise und praktizierten sie selbst. Auf diese Art entstand die brasilianische Rassenvermischung. In Nordamerika wurden die Indianer von den Engländern ausgerottet, in Brasilien wurden die Indianerfrauen und -Mädchen von den Portugiesen geliebt – oder vergewaltigt.

Die Portugiesen verjagten die Indianer, indem sie ihre Wälder niederbrannten und die Fulniôindianer wurden über den nordöstlichen Teil Brasiliens verstreut. Garrinchas Verwandte gelangten hunderte von Kilometern von ihrem zerstörten Heimatdorf entfernt in eine fazenda (großes Gut). Der Großvater José, eigentlich Xisé, heiratete Antônia, die Tochter eines Negersklaven und einer Indianerin. Es waren schwere Zeiten um die Jahrhundertwende im nordöstlichen Brasilien. Die Zuckerfabriken machten Pleite und das Volk zog gen Süden. Die Familie bekam sechs Kinder, alle cafuzos, d.h. Mestizen, eine Mischung aus Indianern und Farbigen, und der zweite Sohn, Amaro Francisco dos Santos, wurde später Garrinchas Vater. Es war jedoch Manuel, Amaros großer Bruder, der als erster die fazenda verließ. Er war ein schlauer Bursche und hatte von den Textilfabriken außerhalb von Rio de Janeiro gehört. Bei einer dieser Fabriken, in Pau Gande, ca. hundert Kilometer außerhalb Rio de Janeiros, ließ er sich nieder und gründete eine Ziegelei, von der er Ziegel an die Fabrik „América Fabril“ lieferte, und als die Eltern starben, schlug er seinen Geschwistern vor, zu ihm nach Pau Grande zu ziehen und bei ihm zu arbeiten. Das taten auch alle, mit Ausnahme von Amaro. Er war nicht so klug wie sein großer Bruder und es dauerte eine Weile, bis er nach Pau Grande kam. Er hatte gerade die Mulattin Carolina in Olinda geheiratet, aber als er sich ebenfalls mit seinen Geschwistern vereinte, verschaffte der Bruder ihm Arbeit als Schuster. In Pau Grande wurde dann später, im Oktober 1933, Manuel dos Santos geboren, ein Junge, genannt Garrincha.

 

(S. 337-338, Ende der Geschichte über Garrincha)

Im November 1982 führte die Fußballzeitung „Placar” Pelé und Garrincha zusammen. Das wurde zu einem herzlichen Treffen, sie spielten zusammen Gitarre, sangen und redeten über Fußball, und irgendwelche Bitterkeiten von Seiten Garrinchas konnten nicht festgestellt werden. Sie sind immer verschieden gewesen und waren auch außerhalb des Fußballfeldes niemals enge Freunde, und als Garrincha Pelé scherzhaft fragte, ob er ihm ein paar Pesetas leihen könne, verstanden alle Anwesenden, dass es sich wirklich um einen Scherz handelte. Aber das war ein Scherz, der auf brutale Art und Weise den Abgrund veranschaulichte, den das Leben seit dem ersten gemeinsamen Match im Jahre 1957 zwischen ihnen aufgetan hatte.

 

Zwei Monate später, am 20. Januar 1983, starb Garrincha. Bei der Obduktion zeigte es sich, dass im Großen und Ganzen fast sein gesamter innerer Körper zerstört war: Herz, Lunge, Leber, Bauchspeicheldrüse und Nieren. Der Mann, der dem brasilianischen Volke mehr Freude geschenkt hatte als irgendein anderer, war tot. Aus Anlass von Garrinchas Tod schrieb Nilton Santos, sein bester Freund, in seiner Selbstbiographie: „Einer der traurigsten Tage meines Lebens war der 20. Januar 1983, der Tag, an dem Mané diese Welt verließ. Ich wohnte damals bei Ilha do Governador und am Abend vorher war ich in einer Sambaschule ganz in der Nähe, wo ich wohnte. Ich kam gegen fünf Uhr morgens nach Hause und wurde gegen neuen Uhr vom Klingeln des Telefons geweckt. Es waren Freunde und die Presse, die mir berichteten, was passiert war. Man wollte mich in einer Direktsendung im Radio, die vom Krankenhaus aus gesendet werden sollte, wo der Tote sich befand, dabei haben. Agnaldo Timóteo, ein Sänger, der auf Botafogo hielt, verlangte im Radio desperat, dass ich zum Krankenhaus kommen sollte. Garrinchas Familie, seine Brüder und Töchter wollten, dass er im Pau Grande begraben werden sollte und dass man vorher eine Totenmessen abhalten wollte. In Rio. Und Timóteo war der Ansicht, dass ich derjenige sei, der das arrangieren sollte.

 

Ich war noch zuhause und weinte nur. Ich konnte nicht das Telefon beantworten und wollte auch nicht ins Krankenhaus fahren, trotzdem ich wusste, dass ich das tun musste. Ich fuhr also dorthin…
Ich wusste nicht, in welcher Etage er lag, und lief Treppe um Treppe hinauf, bis ich schließlich irgendwo eine Tür öffnete, und da lag er auf einem Tisch. Ich verlor total die Fassung, irgend jemand vom Krankenhaus bemühte sich um mich und führte mich zum Büro des Direktors. Dort befanden sich auch alle anderen. Unzählige Mikrophone, Fragen, Lärm, und alle warteten darauf, mich reden zu hören. Alle redeten gleichzeitig. Nicht mal während der WM wurden so viele Fragen an mich gerichtet…

Ein Kommunalpolitiker namens Dayse Lúcidi sagte mir, dass die Gemeinde einen Ehrensalon für die Leichenwache bereitgestellt hatte. Ich wusste, dass der Beschluss der meinige war und sagte:

„Danke, aber das ist kein Platz für ihn. Maracanã muss geöffnet werden, um ihn entgegenzunehmen. Dort werden alle, er und wir, uns heimisch fühlen“.
Der Tag war bewölkt und sogar der heilige St. Petrus schien traurig zu sein. Dann wurde der Tote nach Maracanã geführt und wir mit ihm. Wir standen da, ich und Ademir Menezes, unsere Frauen und Manés letzte Frau, Vanderléia. Niemand sonst.

Ich wurde wütend. Das war doch wohl nicht möglich, dachte ich. Hier lag nun Mané, der die größte Quelle der Freude für dieses Volk gewesen war und der uns zwei WM-Gold geschenkt hatte. Wie konnte Rios Bevölkerung nur so undankbar sein und dieser seiner letzten Stunde? Es sah nicht so aus, als ob überhaupt jemand kommen würde, um ihm die letzte Würde zu erweisen. Ich begann, auf und ab zu wandern, mal fluchend und mal weinend. Sankt Judas Tadeus, der Schutzengel für alle unmögliche Fälle, musste mich erhört haben, auch wenn gesagt wird, dass er mehr von Flamengo hält, den binnen kurzer Zeit war Maracanã voll. Als ob man auf ein Rioderby wartete, nur dass alle still waren. Nichts anderes als Weinen konnte man wahrnehmen, und die Schritte von der langen Schlange der Trauernden, die von Garrincha Abschied nahmen. Wir mussten sogar die Militärpolizei um Hilfe bitten, um eine Art von Ordnung aufrecht zu erhalten, den ganzen Tag über und auch während der Nacht war es brechend voll.

 

(Fußnote S. 153)

„Beim Lunch zeigt es sich, dass der brasilianische Couscous eine Art von Fischkuchen ist. Als ich fragte, ob es möglich sei, ein Fußballspiel zu sehen, werden die Leute aufgeregt und als ich dann später sagte, dass ich eine lange Karriere als Fußballspieler hinter mir habe, lockte das die reinse Euphorie hervor. Ohne es zu ahnen, traf ich mitten in ihre Passion“

Albert Camus in American Journals.

 

(Fußnote S. 154)

„Und jetzt muss ich schuldbewusst ein Geheimnis zugeben: Abgesehen von allen Gelegenheiten, wenn ich Fußball im Fernsehen sah, so war ich sozusagen nur ein einziges Mal bei einem richtigen Fußballspiel dabei. Ich fühle, dass ich nicht das Recht habe, mich als einen echten Fußball-Fan zu bezeichnen, oder für einen richtigen Brasilianer.

Clarice Lispector, brasilianicher Autor in Discovering the world, 1992.